Exposé: `A N N A B L U M E ´
(Kurzfilm, ca. 5 Minuten)
Auf dem bunten, sommerlichen Schulhof macht ein Gerücht die Runde unter den Schülern der sechsten Jahrgangsstufe: eine neue Schülerin soll in die Klasse kommen. Zunächst freuen sich besonders die Mädchen, denn sie bekommen Unterstützung, während die Jungs eher skeptisch sind. Aber als `die Neue´ dann begleitet vom Klassenlehrer Herrn Lüttich den Raum betritt, breitet sich eine seltsame, fast bedrückende Befangenheit aus.
Denn Anna ist anders. Alleine wie sie aussieht. Als ob sie aus der Zeit gefallen wäre. Ganz fraglos hübsch mit ihren brünetten Locken und in ihrem roten Faltenrock. Aber diese altmodischen Halbschuhe, Kniestrümpfe, und dann erst der Schulranzen aus Leder? Kellerfund nennt man so etwas bei Kleinanzeigen, findet Kitti. Und so möchte niemand aus der Klasse die neue Schülerin als Nebensitzerin haben, also landet Anna neben dem dicken Jamal: da will sowieso niemand sitzen, alleine weil der Platz kaum reicht.
In der Pause auf dem Schulhof wird getuschelt. Unmerklich hat sich die Farbe aus den Bildern gezogen, noch sind Andeutungen davon zu erkennen, aber nur noch blass, wie auf vergilbten Fotografien aus längst vergangener Zeit. Nur der Faltenrock von Anna, die alleine inmitten der Kinder auf dem Schulhof steht, strahlt rot wie eine Rose in die zunehmend verblassende Welt.
Als der Unterricht weitergeht ist alles nur noch wie mit Sepia gemalt. Nur Annas Faltenrock strahlt rot neben dem Platz, an dem vorhin noch Jamal saß, der nun plötzlich verschwunden ist. So wie viele andere Kinder, Aisha fehlt, Momo, Tarek und Mirek, Cristal und selbst der Streber Yukio aus der ersten Reihe, der sonst nie den Unterricht versäumt. Herr Lüttich steht an der Tafel und lehrt in ungewohnt scharfem Ton über Mendelsche Erbfolgegesetze. Und als Christa fragt, wo denn die anderen Kinder seien, schneidet er ihr mit einem kreischenden `Ruhe´ das Wort ab und verweist sie auf ihren Platz, so fanatisch in seinem Vortrag, dass beim Fortsetzen die Kreide an der Tafel zerbricht.
Die Schule ist zu Ende. Und die verregnete Welt draußen hat jede Farbe verloren. Mit einem Schlag ist der Sommer vergangen und ein eisiger Winter kündigt sich an. Nur Annas roter Faltenrock scheint den anderen Kindern voraus wie ein verglühender Stern durch die regennassen Berliner Straßen zu schwimmen. Heimlich – sich hinter Autos und Hausecken versteckend – folgen die Kinder dem Mädchen, welches sich nicht ein einziges Mal umdreht und so bei einem Mehrfamilienhaus aus der Gründerzeit mit Kastenfenstern und imposanter Stuckfassade ankommt. Anna bleibt stehen und holt einen großen Schlüssel aus ihrem Schulranzen. Dann dreht sie unerwartet den Kopf und blickt zurück und die Bewegungen der Kinder gefrieren zu Eis. Es ist ein eigenartiger Blick. Todernst blickt Anna den Kindern direkt in die Augen wie für einen ewigen Abschied und scheint sie doch nicht zu erkennen. Dann öffnet sie die Tür, wie von einem starken Durchzug, der an ihren Haaren und an ihrem Rock zerrt, wird sie in das Haus gezogen.
Die Kinder laufen schnell hin, aber zu spät. Vor ihren regennassen Gesichtern fällt die Tür ins Schloss. Sie blicken auf das alte Klingelbord aus Messing, finden Annas Namen: Familie Blume. Zunächst trauen sie sich nicht, doch dann drückt die vorlaute Liese auf den Knopf. Nichts. Paul klingelt Sturm. Dann ein Klicken im Lautsprecher und man hört Annas Stimme, weit weg wie aus einer anderen Zeit. Aber die Kinder gebieten sich gegenseitig Ruhe wie es beim `Schellenkloppe´ üblich ist. Man hört wieder das Klicken, dann bleibt der Lautsprecher stumm. Erneut klingeln die Kinder, und dann steht plötzlich eine sehr elegante Dame (Susan Sideropoulos) unter einem etwas aus der Zeit gefallenen Regenschirm hinter ihnen. „Ihr wollt zu Anna?“, fragt sie ohne auf Antwort zu warten und öffnet die Tür, geht den Kindern voran in den Hausflur und bittet einzutreten.
Die Kinder kommen in das Haus und die Welt hat wieder ihre Farben gewonnen. Wie frisch restauriert scheint das prächtige Treppenhaus, die Wandmalereien zwischen den Stuckpilastern leuchten in bunten Farben und die Kinder folgen Frau Blume, Annas Mutter , die im ersten Stock eine Tür öffnet. Sofort fällt der Blick auf Anna, die am Küchentisch sitzt, als ob sie auf die Kinder gewartet hätte, immer noch mit ernstem, aber nicht unfreundlichem Blick.
Schüchtern betreten die Kinder die Wohnung. Hohe Stuckdecken, Dielen, überwiegend altes, sehr edles Mobiliar, aber nicht nur. Als die Kinder die Küche betreten, bemerken sie den alten Mann in der Ecke zunächst nicht. Annas Großvater Shein Blume (Opa Heinz Wermann) in einem uralten Rollstuhl aus den zwanziger Jahren, hält einen Spazierstock in der Hand, auf dem Kopf eine Kippa und hört 30er Jahre Swingmusik aus einem Volksempfänger: präsentiert von Rachel und David Hermlin begleitet vom Swing-Dance-Orchestra unter Leitung von Andrej Hermlin.
Die Kinder erfahren, dass Annas Vater bereits per Zug nach Lissabon abgereist ist, um mit dem Schiff nach Amerika zu gelangen, wo er die Ausreise der Familie vorbereiten will. Anna und ihre Mutter sind geblieben, weil Opa Blume vor der Abreise von einem Schlaganfall heimgesucht wurde. Annas Mutter verlässt die Küche, um einen Kerzenleuchter zu holen.
Dann plötzlich eine Empfangsstörung im Radio, es knistert, der Sender springt und man hört das tierische Bellen von Adolf Hitlers Stimme, der über das internationale Finanzjudentum spricht. Opa Blume schlägt auf das Radio, der Sender springt zurück, wieder die Stimmen von Rachel und David Hermlin, aber plötzlich verzerrt, zerrissen und zerkratzt und wieder springt der Sender und man hört Adolf Hitlers drohendes Bellen. Und obwohl Opa Blume auf das Radio schlägt, hört man weiter die Rede vom 30. Januar 1939, in der Hitler die Vernichtung der Juden in Europa prophezeit.
Da er die bellende Stimme nicht zum Schweigen bringen kann, beginnt Opa Blume nun anscheinend selbst wirres Zeug zu reden und die Kinder blicken ihn verängstigt an, als er auf den Volksempfänger deutet: „Da! Da-Da! Da-da-da!!! Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt, Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir. Du, Deiner; Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir? Das gehört beiläufig in die kalte Glut! Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?“ Er wendet sich direkt an die Kinder: „Preisfrage! Erstens: Anna Blume hat ein Vogel. Zweitens: Anna Blume ist rot. Drittens: Welche Farbe hat der Vogel?“
Bevor die etwas verwirrten Kinder antworten können, kommt Annas Mutter zurück, einen großen siebenarmigen Leuchter in den Händen. Sie beruhigt ihren Vater und stellt wieder Swingmusik ein.
Zu David Hermlins warmer Stimme beim Song `What a diffrence a day makes´ stellt Frau Blume die Menora auf den Tisch und reicht Anna die Streichhölzer. Gemeinsam zünden die Kinder die Kerzen an, teils feierlich, teils lustig wie Kinder sind, die sich auch einmal die Finger verbrennen. Dann möchten die Kinder nicht weiter stören.
„Ihr braucht keine Angst haben, ihr stört uns nicht.“, lädt Annas Mutter ein, aber die Kinder reichen Anna die Hände zum Abschied: „Wir haben keine Angst. Jetzt nicht mehr.“
Als die Kinder draußen vor das Haus treten, blüht der Berliner Sommer in allen Farben. Moderne Menschen gehen das Trottoir entlang und schenken dem bärtigen Mann (Künstler Gunter Demnig) kaum Beachtung, der einige Pflastersteine vor dem Haus entfernt, um diese durch `Stolpersteine´ zu ersetzen. In die golden glänzenden Oberflächen eingraviert sieht man die Namen von Anna, Betty und Shein Blume, die in diesem Haus wohnten, bevor sie deportiert und in Ausschwitz-Birkenau ermordet wurden.
Während des Abspanns sieht man die Swingin´ Hermlins auf der Terrasse eines Gartenfests auf dem Vereinsgelände des Musik- und Theatervereins mit dem Song eines jüdischen Komponisten. Dazwischen geschnitten Bilder vom Publikum: immer wieder Menschen, die wie aus der Zeit gefallen im eleganten Stil der 30er Jahre gekleidet sind, neben solchen aus unserer Zeit. Viele prosten zu, sagen ein Wort oder lächeln einfach nur `beswingt´ vom Swing der Swingin´ Hermlins in die Kamera.